Dienstag, 22. September 2009

Buchtipp: "Wo Israel anfängt und endet"

Der Architekt Munio Weinraub und sein Sohn, der Filmemacher Amos Gitai

Wohnhochhäuser im kubisch-absolutistischen Stil Le Corbusiers, aber so an einem Steilhang gelegen, dass sie von der oberen Straße aus über eine Brücke auf halber Höhe angesteuert und über ein allseits offenes Stockwerk nach unten und oben erschlossen werden. Schul-, Versammlungs- und Sozialbauten, die sich auf radikal konsequente Weise klassischer Bauhaus-Prinzipien bedienen. Oder ein Synagogenraum mit seitlichen Emporen und mächtiger halbrunder Apsis, der um 1950 auch als moderner Kirchenbau in Deutschland Ehre eingelegt hätte, mit seiner riesigen Lichtöffnung in Form eines Davidsterns in der Decke aber einen anderen Weg zum Himmel sucht. Drei eigenwillig moderne, höchst einprägsame Beispielbauten - sie beweisen den hohen Rang der Aufbau-Architektur in den vierziger bis sechziger Jahren im jungen Staat Israel.

Wie Hunderte anderer Bauten im vergleichbaren Stil - Siedlungshäuser, Forschungs- und Regierungsbauten, Krankenhäuser, Kibbuzim, Schulen, Kultur- und Gewerkschaftsbauten - wurden sie von Munio Weinraub entworfen, einem Architekten, der, 1909 in Polen geboren, in Deutschland am Bauhaus in Dessau und Berlin sowie in Frankfurt am Main studiert hat. Im Jahr 1934 hat Weinraub einen Antrag auf Einreise nach Palästina gestellt, wo er schon bald nach seiner Ankunft ins öffentliche Baugeschehen einbezogen wurde und 1937 mit Al Mansfeld als Partner ein Architekturbüro gründen konnte.



Nicht nur mit dem Siegerentwurf im Wettbewerb für das neue Regierungsviertel Kiryah in Jerusalem ist dieses Büro bekannt geworden, auch der Erstentwurf für die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geht auf die Entwürfe dieses Teams und auf die atmosphärisch suggestiven, raumhaltigen Handzeichnungen Weinraubs zurück.

Dass der Nachlass dieser Gründerfigur, der ja immerhin einen beträchtlichen Teil der Architekturgeschichte des Staates Israel nachvollzieht oder wenigstens prominent beleuchtet, im vergangenen Jahr der Architektursammlung der Technischen Universität München vermacht worden ist, kann man durchaus als museumspolitisches Ereignis feiern, ganz sicher aber als großen Vertrauensbeweis für das Münchner Sammlungs- und Forschungsinstitut, das sich nicht erst seit der Eröffnung der Pinakothek der Moderne mit einer ungewöhnlich dichten Serie international bedeutender Ausstellungen als kritischer Interpret der Architekturgeschichte und als Forum der aktuellen Baukultur höchstes Ansehen erworben hat.

Gründung und Toleranzgrenzen
Bei einer so spektakulären Transaktion von geistigem Eigentum über Grenzen hinweg ist aber nicht nur der Beschenkte, sondern auch der, der die Stiftung veranlasst hat, von größtem Interesse. Es war Munio Weinraubs Sohn Amos Gitai - der bedeutendste und in seiner kritischen Unruhe wohl auch kreativste Filmemacher Israels, der die riesige architektonische Hinterlassenschaft seines Vaters nach München gegeben hat.

Dort im räumlich beengten, aber mit Nachlässen prominent bedachten Institut der Universität war man sich der Außerordentlichkeit dieses Vermächtnisses sehr wohl bewusst. Winfried Nerdinger hat als Direktor des Münchner Architekturmuseums sowohl die Spende als auch den Spender mit einem Dokumentarwerk gewürdigt, das sich ähnlich weit über die Normalität und über die Konventionen erhebt wie die Spende selber: Mit einer gründlich vorbereiteten Ausstellung, mit Filmvorführungen, Vorträgen und Podiumsdiskussionen hat das Architekturmuseum das individuelle Lebenswerk der beiden Künstler in der Pinakothek der Moderne in all seinen Verästelungen vorgestellt.

Das eigentliche Ereignis ist aber die mächtige Publikation, die dabei entstanden ist und die von der einen Seite als umfassende Anthologie des architektonischen Lebenswerks von Munio Weinraub zu erleben und zu erblättern ist, von der anderen Seite sich aber als analytisches Kompendium zum umfangreichen Dokumentar- und Spielfilmwerk Amos Gitais erleben lässt. Selten dürfte einem Filmautor, der sich in seinen Fünfzigern befindet, eine so dichte und so umfassend bebilderte Würdigung seines Werks gewidmet worden sein. Auch wer nicht alle Texte im Buch liest, bekommt eine intensive Vorstellung vom kritisch-humanen Anspruch des Filmkünstlers Amos Gitai, vom pessimistischen Elan seiner Spielfilme, die den emotionalen Mutationen in der globalisierten Welt auf der Spur sind, und vom kompromisslosen Wahrheitsanspruch des Realitätensammlers, der mit seinen Langzeitdokumentationen - etwa über die Lebensumstände der Palästinenser in Israel - mehrfach die Toleranzgrenzen seiner Heimat ausgelotet hat.

MUNIO WEINRAUB / AMOS GITAI: Architektur und Film in Israel. Herausgegeben von Winfried Nerdinger. Deutsch und Englisch. Edition Minerva, München 2008. 408 Seiten, 580 Abbildungen, davon 290 in Farbe, 35 Euro.

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